Bild: Markus Werner ©

Heilung und Heilwege

Wenn wir von Heilung sprechen, meinen wir meistens eine körperliche Heilung.

Alles soll so werden, wie es einmal war, als es mir noch gut ging.

Das zumindest war meine Vorstellung von Heilung, als ich erkrankt bin. Dabei ist mir gar nicht bewusst gewesen, dass Krankheit meist eine Vorgeschichte hat. Schwerwiegende Erkrankungen tauchen nicht einfach nur so auf. Sie entwickeln sich über eine geraume Zeit.

Als erstes hält mich die Krankheit an. Sie wirft mich aus meinem Alltag heraus. Sie lässt mich innehalten. Fragen tauchen auf. Was stimmt nicht mehr mit mir – mit meinem Körper? Was stimmt nicht mehr in meinem Umfeld? Was passiert mir hier? Manchmal dämmert es mir nach Jahren. Und oft bleibt mir der Zugang zum Verstehen verschlossen. Das Denken hat seine Grenzen und die endlosen Gedankenschleifen bringen nicht wirklich weiter.

Klar ist, dass eine neue Phase begonnen hat. Klar ist ebenso, dass mein Leben sich verändern wird. Klar ist, dass ich mich auf einem neuen Weg befinde, den ich gerne als Heilweg bezeichne. Es ist ein Weg, der mich durch tiefe Täler und Durststrecken führt. Es kann sein, dass mein Körper Schmerzen empfindet. Vielleicht erfahre ich Ungleichgewicht als Schwindel.

Ich werde einen Arzt konsultieren, dann eine Psychologen, dann einen Heiler. Vielleicht suche ich spezielle Orte aus. Vielleicht suche ich nach einem Verfahren oder einer Technik, um mit der Erkrankung umgehen zu können. Ich habe Kontakt aufgenommen mit meinem Heilweg. Es wird kein Heilsversprechen geben. Es kann sein, dass ich mit dem Tod konfrontiert bin. Niemand kann mir sagen, was mich erwarten wird und niemand wird mir den Weg durch meine Erkrankung abnehmen können. An vielen Punkten werde ich mich alleine fühlen. Manchmal wird sich das einsam anfühlen. Ich werde Krafttiere einladen oder die Engel bitten, mir zu helfen. Ich werde beten und bei Freunden um Rat fragen. Ich werde unbekanntes Terrain betreten und neue Schritte tun. Ich werde verzweifeln und Hoffnung tragen. Ich werde Gleichgesinnte treffen und verstehen, was Leiden bedeutet. Ich werde Mitgefühl entwickeln und eine grundlegende Veränderung zu meiner Lebenseinstellung beobachten.

Irgendwann auf dieser Reise wird mir bewusst, dass nicht nur ich wenig über meine Erkrankung verstehe. Auch die Mediziner, Ärzte und Psychologen können nur begrenzt beraten, begleiten und verordnen. Vieles ist Handwerk. Immer tut es mir gut, wenn das Eingeständnis ausgesprochen wird, dass mein Gegenüber nicht mehr weiter weiß. Mein Hausarzt sagte einmal passend:

Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die die Schulmedizin nicht erklären kann.

Anonym

Es tut mir gut, wenn ich offen bleiben kann für das Geheimnis des Lebens. Es ist Balsam für meine Seele, wenn ich aufhöre, mich zu zwingen und zu verurteilen. Oft braucht es Disziplin. Dann braucht es wieder Abwägungen über die Einnahme eines Medikaments oder die Annahme einer Behandlung. Vor allem braucht es viel Ruhe. Es braucht Schonräume und Menschen, die mitschwingen können.

Ich habe von einigen Menschen gehört und gelesen, die trotz widrigster Umstände Heilung erfahren haben. Anita Moorjani ist so eine Frau. Sie hat eine schwere Krebserkrankung überlebt. Alle Geschichten erzählen von ganz persönlichen Erfahrungen. Jede einzelne Erfahrung scheint ihre Zeit und ihre Qualität zu haben. Es scheint, dass ich keinen Schritt auslassen kann. Es scheint, dass die passenden Helfer und Begleiter warten. Es scheint, dass es Wegstrecken gibt, die ich alleine meistere. Andere Zeiten erfordern, dass ich um Hilfe bitte.

Vielleicht wird bereits deutlich, dass auch eine Erkrankung sich lebendig anfühlen kann. Sie kann zum Abenteuer werden oder zu einem Fluch. Entscheidend ist, wie ich an sie herantrete.

An einem ganz besonderen Heilort in Brasilien – in Abadiania – durfte ich an einigen „Heilsitzungen“ teilnehmen. Immer wieder wurde den Anwesenden gesagt, dass Heilung nicht nur auf der körperlichen Ebene passiert. Da gäbe es andere Ebenen, auf denen ebenfalls Heilung passieren könnte ohne, dass die körperliche Ebene berührt würde.

Wenn ich heute in meine Lebenssituation fühle, dann spüre ich, wie viele Ebenen in einander greifen. Meine physische Erscheinung ist nur die Form. Die emotionale Welt der Gefühle spielen ihre Klänge in den Körper. Die Gedanken formen Weltbilder, die in meinem Alltag meine Wahrnehmung einnehmen. Dahinter könnte es noch eine spirituelle Welt geben. Mein Glauben und meine Religionszugehörigkeit mögen eine Rolle in meiner Genesung spielen. Andere Menschen beeinflussen meine Gedanken. Manch einer kommt vielleicht sogar in Kontakt mit früheren Leben oder spürt, dass es Felder gibt, die seiner Gesundheit zuträglich sind während andere Umgebungen Energie ziehen. Meine Vorfahren mögen in meinem Genen bestimmte Schwachstellen weitergeben. Vielleicht hänge ich in bestimmten Verhaltensmustern fest, die mir meine Eltern als Kind anerzogen haben. Meine Ernährung kann eine Rolle auf meinen körperlichen Zustand haben. Vielleicht lebe ich auch in einer Umgebung, die besonders belastet ist mit Strahlung oder Umweltgiften. Wenn ich die Wechselwirkungen all dieser Felder in Betracht ziehe, darf ich getrost den Gedanken loslassen, dass ich etwas verstehen kann.

Im besten Fall kann ich mir sogar erlauben, aufzuhören, zu glauben, dass das, was mir widerfährt, etwas mit mir zu tun hat.

Sätze, die ich oft zu hören bekam, waren in diesem Zusammenhang:

„Du hast dir deine Erkrankung ausgesucht.“
„Was will dir deine Erkrankung sagen?“

Heute lehne ich derartige Aussagen gegenüber Erkrankten ab. Keiner kann sich vollständig in das Schicksal eines anderen Menschen einfühlen und keiner kann behaupten, die nötigen Schritte eines Anderen zu kennen.

Ich senke lieber demütig den Blick vor dem großen Mysterium, dem wir unser Leben verdanken und freue mich über jedes Aha und jeden Durchbruch bei mir und Anderen.

So wird aus jedem Heilweg ein Weg des inneren Wachstums, der – meiner Meinung nach – auch die Chance auf physische Besserung in sich trägt.